Der Weihnachtsesel
von Wolfgang Kraml
Dick und schwer purzelten die Schneeflocken vom grauen
Himmel herab.Es war kalt
und Dunja fror in ihrem dünnen Mäntelchen.
Aber das machte ihr nur wenig aus. Sie hatte jetzt
einfach keine Zeit,
um auf die Kälte zu achten und auch nicht auf das
lustige Tanzen der Schneeflocken.
Es war jetzt schon fast Mittag. In einer knappen
Stunde würden die Geschäfte zusperren.
Bis dahin musste sie es einfach gefunden haben. In
vier Läden hatte Dunja es an
diesem Vormittag schon versucht, aber in keinem davon
hatte sie genau das bekommen
was sie suchte. Jetzt wusste sie nur noch ein Geschäft
in der Nähe der Altstadt,
wo sie es noch probieren konnte.
Also ließ sich Dunja mit der Menge der Menschen
treiben, die genau wie sie
noch in letzter Minute etwas einkaufen mussten. Immer
wieder wurde sie
angerempelt und gestoßen, weil die Erwachsenen nicht
auf das kleine
Mädchen achteten, das da zwischen ihnen dahin
stolperte.
Obwohl jetzt die friedlichste Zeit des Jahres sein sollte,
ging es in
Wirklichkeit ganz anders zu. Dunja kam sich noch
kleiner und verlassener vor,
als sie es ohnehin schon war. Sie war heilfroh, dass
sie in die ruhigere kleine
Gasse einbiegen konnte, in der das Geschäft lag, zu
dem sie wollte.
Nach ein paar Schritten stand sie endlich vor der
Drogerie.
Dunja drückte fast ihre Nase an der Scheibe des
Schaufensters platt.
Da drinnen, nur noch durch das Glas getrennt, lag es!
Sie hatte es wirklich gefunden. Das Weihnachtsgeschenk
für ihre Mama!
So lange hatte sie danach gesucht.
Nicht, dass sie nicht gewusst hätte was sie ihr
schenken sollte. Ganz im Gegenteil.
Sie wusste es ganz genau. Das hatte die Sache ja so
schwer gemacht.
Dunjas Mama hatte wunderschöne, lange, dunkelbraune
Haare.
Sie waren leicht gewellt und glänzten in der Sonne so
hübsch.
Im Sommer hatte sie ihre Haare immer mit einer Klammer
und einem
Kamm zu einer frechen Frisur hochgesteckt. Aber die
Klammer war
zerbrochen und dem Kamm fehlten schon einige Zähne, so
dass er nicht mehr
besonders gut hielt. Deswegen hatte Dunja beschlossen,
ihrer Mama zu
Weihnachten einen neuen Kamm und eine neue Haarklammer
zu schenken.
Aber es sollten kein gewöhnlicher Kamm und keine
gewöhnliche Klammer sein.
Dunja stellte sich einen gebogenen Kamm und eine
Klammer mit ganz langen,
runden Zähnen vor. Und goldfarben sollten sie sein,
weil das so gut zur
Haarfarbe ihrer Mama passte. Genau das lag da vor ihr
im Schaufenster.
Vor lauter Freude und Aufregung klopfte ihr das Herz
bis zum Hals.
Sie entzifferte das Preisschild, das neben ihrem
Geschenk stand.
45 Schillinge für die Klammer und 30 Schillinge für
den Kamm.
Zusammen also 75 Schillinge. Das konnte Dunja sich
gerade leisten,
es würden ihr sogar noch etwas übrigbleiben.
Eigentlich
waren 75 Schillinge ja nicht so viel Geld.
Aber Dunja hatte es nicht leicht. Sie und ihre Mama
waren nicht das,
was man reich nennen konnte. Seit sie vor ein paar
Monaten nach
Österreich gekommen waren, wohnten die beiden in einer
kleinen dunklen
Kellerwohnung. Sie hatten nur einen kleinen Kasten,
einen Tisch und
zwei Sessel. Zum Kochen gab es einen kleinen
elektrischen Kocher und das
Wasser zum Waschen mussten sie in einer Schüssel vom
Gang holen.
Kühlschrank gab es keinen. Und zum Schlafen gab es
zwei alte
Matratzen und ein paar Decken. Spielzeug hatte Dunja
keines.
Das hatte sie mit all den anderen Sachen
zurückgelassen, als sie mit ihrer
Mama vor dem Krieg in ihrer Heimat flüchten musste.
Und auch ihr Papa war nicht da. Er war aus dem Krieg
nicht
mehr heimgekommen und Dunja wusste nicht, ob er
überhaupt noch
am Leben war. Oft lag Dunja auf ihrem Bett und weinte,
weil sie so
alleine war und niemanden hatte, mit dem sie reden
hätte können.
Nur die Pfarrschwester der Kirche in der Nähe ihrer
Wohnung hatte
immer Zeit für sie. Sooft sie konnte, half Dunja ihr
bei kleinen
Arbeiten in der Kirche, und weil sie eine schöne
Stimme hatte,
durfte sie bei den Tauffeiern singen. Dafür bekam
Dunja immer wieder
eine Kleinigkeit zugesteckt. Davon hatte sie Schilling
um Schilling gespart,
um ihrer Mama zu Weihnachten die Haarklammer und den
Kamm kaufen zu können.
Entschlossen ging Dunja in das Geschäft, grüßte
höflich und erklärte der Verkäuferin,
was sie haben wollte. Das war gar nicht so einfach,
weil sie ja die fremde
Sprache noch nicht so gut konnte. Am Ende zog sie die
Verkäuferin einfach zum
Schaufenster und zeigte auf den Kamm und die Klammer.
Die verstand,
holte die beiden Sachen aus dem Fenster und verpackte
sie für Dunja besonders hübsch.
Dann ging die Verkäuferin zur Kasse und tippte den
Preis ein.
Dunja griff in ihre Manteltasche, um ihre Geldbörse
herauszuholen.
Aber da war nichts! Die Tasche war leer. Dunja griff
in die andere Manteltasche.
Wieder nichts! Beide Taschen waren völlig leer.
Dunja erstarrte vor Schreck und wurde ganz bleich im
Gesicht.
Sie durchwühlte noch einmal beide Taschen. Aber
vergeblich.
Nur in der rechten Hand hatte sie ein verwelktes
Salatblatt.
Der Überrest vom Futter für den Esel bei der großen
Weihnachtskrippe
am Altstadtplatz. Tränen schossen ihr in die Augen und
verzweifelt lief
Dunja aus dem Geschäft. Sie hatte sich schon so
gefreut und jetzt war alles aus.
Kein Weihnachtsgeschenk für ihre Mama. Weinend rannte
Dunja einfach weiter,
ohne dass sie wusste wohin. Auf einmal stand sie
wieder vor dem
Zaun der Weihnachtskrippe. Sie lehnte sich an und
dicke Tränen
kullerten über ihr Gesicht. Eine feuchte Schnauze
stuppste sie an und die
raue Zunge des Esels leckte über ihre Wangen. Dunja
streckte die Hand aus
und kraulte den Esel zwischen den Ohren. Es tat ihr
gut das weiche
Fell zwischen ihren Fingern zu spüren. Sie erzählte
dem Esel ihr ganzes Leid.
Als ob er sie verstehen könnte, hielt er still und
leckte immer wieder über ihr Gesicht.
Dunja fühlte sich ganz klein und elend. Sie erinnerte
sich an das verwelkte
Salatblatt in ihrer Manteltasche und hielt es dem
Grautier hin.
Gemächlich nahm es der Esel aus ihrer Hand und fraß.
Dann senkte er den Kopf und wühlte ihm Stroh am Boden herum.
Mit geschlossenen Augen streichelte Dunja die Mähne
des
Esels."Iii-Aah!" sagte der.
"Ist ja schon gut, lieber Esel." murmelte
Dunja.
"Iii-Aah" meldete sich der wieder und stieß
sie sanft an.
"Ich hab‘ doch nichts mehr!" sagte Dunja zum
Esel und sah
ihn an. Und auf einmal ging ein Leuchten über ihr
Gesicht
und ihr Weinen war wie weggewischt. Die Tränen aus
ihren
Augen kamen diesmal vor lauter Lachen. So froh war sie
nicht
mehr gewesen, seit sie von Zuhause hatte weggehen
müssen.
Der Esel hatte ihre Geldbörse im Maul. Dunja musste es
hier
bei der Krippe verloren haben, als sie in der Früh da
war, um
dem Grautier seine Salatblätter zu füttern.
"Danke! Ich dank dir, du lieber Esel du!
Vielen Dank!" rief sie.
Dann wandte sie sich um und rannte so schnell sie
konnte
zurück zu dem Geschäft, um das Weihnachtsgeschenk für
ihre Mama zu holen.
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